Die Serie der Auslegung des Sonntagsevangeliums durch Dr. Martin Brüske geht weiter.
Hörerin des Wortes.
Auslegung zum Evangelium des 16. Sonntags C, Lk 10, 38-42
Das fleischgewordene Wort zu Gast! Marta nimmt Jesus in wunderbarer Gastfreundschaft auf. In den vielen Sorgen des Dienstes droht sie sich aber zu verlieren. Maria hört in gesammelter, freier Aufmerksamkeit. Jüngerin! So begreift sie tiefer, wer dieser Gast ist. Sie nimmt Jesu Dienst an. Das eine Notwendige, das nicht vergeht, sondern immer bleibt!
Hausherrin und Schülerin: Eine Revolution!
Was wir vielleicht gar nicht mehr bemerken, weil es für uns selbstverständlich zu sein scheint, ist in Wahrheit eine Revolution. Eine Revolution, die in der Bewegung stattfindet, die von Jesu Wirken und Wort ausgeht und die Frauen ermächtigt.
Was also ist der kulturelle Hintergrund für dieses ungewöhnliche, ja revolutionäre Setting? Die orientalische Zentraltugend der Gastfreundschaft gegenüber Männern wird nur von Männern ausgeübt. Lesen Sie im Vergleich zu unserem Evangelium etwa einmal den Besuch der drei Männer bei Abraham in Gen 18… Eine der herrlichsten Gastfreundschaftsgeschichten des Ersten Testaments! Aber „natürlich“: Der Dienst Saras hat im Hintergrund zu geschehen. Er bleibt buchstäblich unsichtbar hinter Zeltbahnen (worauf ein Teil des erzählerischen Charmes dieses auch literarischen Meisterstücks beruht): „Da eilte Abraham ins Zelt zu Sara und sagte: Nimm schnell drei Maß Mehl, Weizengrieß, knete und mache Kuchen!“ (…) „Sie fragten ihn: Wo ist deine Frau Sara? Dort im Zelt, sagte er.“ (…) „Sara hörte am Eingang des Zeltes hinter seinem Rücken zu.“ (Gen 18, 6.9.10c). Die herrliche Pointe der Erzählung über das scheinbar verborgene Lachen Saras, das diese drei ungewöhnlichen Gäste dennoch wahrnehmen, spielt genau mit diesem Motiv (und überschreitet auch schon hier Grenzen der Konvention)…
In unserem Evangelium ist Marta die, die Gastfreundschaft gewährt. Sie agiert im Vordergrund, ja, sie redet Jesus an, als sie sein Verhalten irritiert – und der tadelt sie nicht etwa hart dafür, sondern korrigiert sanft eine Haltung, die Marta in Wahrheit nicht gut tut, aber er tadelt tatsächlich nicht, dass sie ihn durchaus „fordernd“ angeredet hat. Das ist alles äußerst ungewöhnlich!
Noch ungewöhnlicher ist vielleicht sogar das Verhalten ihrer Schwester Maria: Sie setzt sich zu Füßen Jesu wie der Rabbinenschüler zu Füßen des Rabbis sitzt, so wie es Paulus in der Apostelgeschichte von seiner Schülerschaft bei Gamaliel sagt: „Ich bin ein Jude, geboren in Tarsus in Kilikien, hier in dieser Stadt erzogen, zu Füßen Gamaliëls genau nach dem Gesetz der Väter ausgebildet, ein Eiferer für Gott, wie ihr alle es heute seid.“ (Apg 22, 3). Dass aber eine Frau zu Füßen eines Rabbis sitzt, seine Schülerin, seine Jüngerin ist, war schlichtweg undenkbar! Man kann die Frage stellen, wenn man den erzählerischen Kontext bei Lukas anschaut, ob die drei Personen, die hier fokussiert werden, allein sind. Verneint man sie, was eigentlich naheliegt und auch Martas Hektik besser erklärt, dann sitzt Maria in einem gemischten Kreis von Jüngerinnen und Jüngern Jesu. Das zeigt an, dass bei Jesus kulturelle Modelle über das, was Frauen zu tun und zu lassen haben, in ziemlich provokativer, ja revolutionärer Weise durchbrochen werden. In Gottes Königsherrschaft, die durch Jesus anbricht und Menschen in sich hineinzieht, können Frauen und Männer im Hören des Wortes in gleicher Weise, unmittelbar und eigenständig, Jüngerinnen und Jünger Jesu werden!
Die Situation – und zwei Reaktionen darauf
Wo leben Marta und Maria? Folgt man dem Johannesevangelium – und ich glaube, die Angabe ist richtig – dann in Betanien am Ölberg. Wir würden uns chronologisch also ganz am Ende des Weges Jesu aus Galiläa nach Jerusalem befinden. Lukas – dessen Reisebericht nicht beansprucht, einfach eine protokollarische Folge zu berichten, sondern der seinen bestens recherchierten Stoff dennoch grandios gestaltet – lässt die Ortsangabe fort und zieht die Erzählung relativ in den ersten Teil des Reiseberichts. Dort folgt sie unmittelbar vor der Gebetslehre Jesu und unmittelbar nach der Beispielerzählung vom barmherzigen Samariter. So werden drei Elemente zusammengestellt, die Jüngerschaft zur Lebensform gestalten: Dienst am Nächsten, aufmerksame Hörsamkeit gegenüber dem Wort des Herrn, Gebet. Während die Erzählung vom Samaritaner ausführlich wird, wenn sie vom Dienst des Samariters an dem unter die Räuber Gefallenen berichtet und dies durch den gesamten Duktus der Erzählung gerade äußerst positiv hervorgehoben wird, wird im Evangelium von Marta und Maria gerade dieser vielfältige Dienst in der Perspektive einer notwendigen Unterscheidung betrachtet. Und diese Unterscheidung wird genau durch Marta und Maria repräsentiert.
Jesus will überall dahin kommen, wohin ihm seine Jünger vorausgehen. So sagt er es bei der Aussendung der 72. Ob es auch hier dieses „Vorauskommando“ gegeben hat, oder ob Jesus ganz direkt bei seinen Freundinnnen auftaucht, wissen wir nicht. Jedenfalls wird er hier – anders als im samaritanischen Dorf zu Anfang des lukanischen Reiseberichts – warm und liebevoll, in Freundschaft, aufgenommen. Aber die beiden Frauen reagieren auf den Besuch jeweils ganz unterschiedlich: Marta in wunderbarer, aber auch hektisch-vielfältiger orientalischer Gastfreundschaft. Vergleichen Sie noch einmal mit Gen 18: Auch Abraham wird „hektisch“, als er die drei Männer entdeckt! Maria hingegen nimmt Jesus auf in der Haltung der freien, achtsamen, aufmerksam lauschenden Schülerschaft. Dass eine – wenn ich richtig sehe, spätestens mit Gregor dem Großen beginnende – lange kirchliche Tradition in Marta und Maria Typen des aktiven und kontemplativen Lebens in der Kirche, gar des aktiven und kontemplativen Ordenslebens gesehen hat, legt sich nahe und ist auch nicht einfach falsch. Nur würde ein einfaches Nebeneinander der beiden Typen – unter Vorrang des kontemplativen – gerade die Pointe des Evangeliums übersehen.
Konflikt
In geradezu unglaublicher erzählerischer Ökonomie macht unser Evangelium klar, wie beansprucht Marta durch die schöne Gastfreundschaft ist, die sie Jesus (vermutlich auch einigen seiner Freundinnen und Freunde) gewähren will. Sie ist dadurch völlig mit Beschlag belegt. Ich stelle mir vor, dass Jesus das mit Dankbarkeit, Wohlwollen – aber auch mit Sorge angesehen hat. Marta begreift ihr Tun dabei ganz klar als „Dienst“. Das Verb „diakonein“, „dienen“ ist ja in urchristlicher Sprache unglaublich positiv besetzt. Jesu ganzes Werk ist Dienst – und die Jünger Jesu sollen genauso „dienen“. Also ein ganz und gar zentraler und eben positiver Begriff! Aber gerade deshalb braucht es Unterscheidung!
In der Geschichte vom barmherzigen Samariter ist der vielfältige Dienst geradezu lebens-notwendig. Marta aber gerät dabei in einen seelischen Zustand, den die englische Sprache mit „very busy“ umschreiben würde: vielbeschäftigt mit der Tendenz zu „zu viel“.
Das heißt: Sie lässt sich dadurch aufsaugen – und wird dadurch von sich selbst entfremdet. Großartig, wie man Maria als Mitte der Geschichte, als ruhenden Pol zu Füßen Jesu wahrnimmt, der selbst die Ruhe in Person ist und Marta wirbelnd drum herum!
Ihre Entfremdung wird schließlich in ihrem Zornesausbruch deutlich. Denn was passiert, ist nichts anderes als eben das: Marta ist wütend auf Jesus und auf ihre Schwester, vielleicht sogar noch mehr auf Jesus: „Herr, kümmert es dich nicht… Sag ihr…“. Sie ist so zentriert und gefangen in ihrer Tätigkeit, dass sie in ihrem Zorn Jesus deutlich anfährt – um ihn zugleich für eine in ihrem Sinne richtige Ordnung der Dinge zu instrumentalisieren: „Setz gefälligst deine Autorität ein, Jesus – und sag ihr.“ So gefangen in sich und fixiert, droht sie aber gerade den zu verpassen und zu verkennen, der als Gast in ihr Haus gekommen ist.
Das Viele, das Eine und das Bleibende
Martas Zornesausbruch schenkt uns das Wort Jesu, den Höhepunkt des Evangeliums. Dabei reagiert Jesus in vollkommener Gelassenheit ohne auch nur einen Anflug von Gereiztheit auf Martas Ausbruch. Sanft korrigiert er sie. In vielfacher Sorge hatte Marta sich verloren, ja, sie drohte unempfänglich für den zu werden, der als Gast bei ihr eingekehrt war. Aber auch die Sorge des Samaritaners um das Opfer der Räuberbande war vielfältig – und musste es sein. Jesus denunziert nicht diese Sorge – er macht sie nur darauf aufmerksam und überwindet so, ganz sensibel und zart, ihre Vergesslichkeit gegenüber dem einen Notwendigen: Ihn zu hören! Denn alle Sorge wird vergehen, überhaupt das Vielfältige – nicht in seinem Sein, sondern als Zerstreutes und Zerstreuendes – wird vergehen, das Wort Jesu bleibt in Ewigkeit. Deshalb wird Maria ihr Hören nicht genommen: In freier, liebender, aufmerksamer Hörsamkeit birgt sie sich schon jetzt in Jesu Wort, das in Ewigkeit bleibt.
Das Wort zu Gast
Jesus, das fleischgewordene Wort, will auch bei uns zu Gast sein. Er will uns nähren mit einer Speise, die Ewigkeit verheißt. Er will uns nicht nur als Dienende, sondern auch als solche, die sich seinen Dienst gefallen lassen. Hören wir ihm zu. Nehmen wir sein Wort auf in unsere Herzen. Es will in unseren Herzen keimen und Frucht bringen – und es lässt uns die Ewigkeit aufgehen:
„Himmel und Erde werden vergehen; aber meine Worte werden nicht vergehen.“ (Mt 24,35).
Dr. theol. Martin Brüske,
geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau. Martin Brüske ist Mitherausgeber des Buches “Urworte des Evangeliums”.
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