Für alle Christen und für Humanisten kantianischer Prägung gibt es jetzt eine einzige Frage, die beantwortet werden muss. Die Antwort ist die Grundlage jeder weiteren Schlussfolgerung über die Kanzlerschaft von Friedrich Merz. Sie lautet: Kanzler, wie hältst du es mit der Einheit der Menschenwürde? Die Gretchenfrage der Stunde stellt Martin Brüske.
Immer schon Bürger
Immanuel Kant war der Überzeugung, dass der gezeugte Mensch nie nur „Gemächsel“ seiner Eltern ist. Vielmehr sei er immer schon „Bürger“, ja “Weltbürger”. Ab dem ersten Augenblick seiner Existenz betritt er so als Person mit Würde und Rechten die Bühne der Welt.
„Denn da das Erzeugte eine Person ist, und es unmöglich ist, sich von der Erzeugung eines mit Freiheit begabten Wesens durch eine physische Operation einen Begriff zu machen*): so ist es eine in praktischer Hinsicht ganz richtige und auch nothwendige Idee, den Act der Zeugung als einen solchen anzusehen, wodurch wir eine Person ohne ihre Einwilligung auf die Welt gesetzt und eigenmächtig in sie herüber gebracht haben; für welche That auf den Eltern nun auch eine Verbindlichkeit haftet, sie, so viel in ihren Kräften ist, mit diesem ihrem Zustande zufrieden zu machen. – Sie können ihr Kind nicht gleichsam als ihr Gemächsel (denn ein solches kann kein mit Freiheit begabtes Wesen sein) und als ihr Eigenthum zerstören oder es auch nur dem Zufall überlassen, weil an ihm nicht bloß ein Weltwesen, sondern auch ein Weltbürger in einen Zustand herüber gezogen, der ihnen nun auch nach Rechtsbegriffen nicht gleichgültig sein kann.“ (Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, § 28, 1797).
Dazu steht in Entsprechung die Rechtsbildung im „Allgemeinen preussischen Landrecht“ von 1794. Es handelt sich um ein für die deutsche Rechtsgeschichte außerordentlich wichtiges Dokument. Hier heißt es:
Rechte der Ungebornen.
§10. Die allgemeinen Rechte der Menschheit gebühren auch den noch ungebornen Kindern, schon von der Zeit ihrer Empfängniß.
§11. Wer für schon geborne Kinder zu sorgen schuldig ist, der hat gleiche Pflichten in Ansehung der noch in Mutter Leibe befindlichen.
Mit Freiheit begabt
Kants ethische und rechtsphilosophische Position steht in der Tradition des Verständnisses von Person, wie es sich christentumsgeschichtlich entwickelt und das seinen ersten Höhepunkt in der Hochscholastik des 13. Jahrhunderts hat, wie Theo Kobusch gültig zeigen konnte (Theo Kobusch, Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes Menschenbild. (1993), 2., erweiterte Auflage. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1997).
Person ist hier nicht ein Wesen, das aktuell über bestimmte Fähigkeiten und Leistungen verfügt. Letzteres ist eine Position, die erstmals im englischen Empirismus mit John Locke auftaucht. Sie liegt vielen utilitaristischen und entsprechenden rechtsethischen und grundrechtsdogmatischen Stellungnahmen zugrunde, wie sie im deutschsprachigen Raum etwa von Norbert Hoerster und Reinhard Merkel vertreten wurden – und offensichtlich (Stichwort: „biologistisch-naturalistischer Fehlschluss“) teilt auch Frauke Brosius-Gersdorf diese Position. Sie führt zu unheilbaren Widersprüchen und absurden Konsequenzen – wie demnächst hier gezeigt werden wird.
Person ist bei Kant vielmehr ein mit Freiheit begabtes Wesen. Nicht aktuelle Leistungen und Fähigkeiten – die als solche auch nur faktische psychologische Zustände sind, aus denen sittlich nichts folgen würde, wären sie nicht noch grundsätzlich mehr als nur das -, sondern die Bestimmung zu einer moralischen Zukunft aus Begabung macht Würde aus. Wie kann es anders sein? Die Bestimmung zur Selbstbestimmung ist das, was unsere unbedingte Achtung fordert! Diese Bestimmung ist aber ganz grundsätzlich mit der Zugehörigkeit zur biologischen Art Mensch gegeben.
Das heißt: Biologische Existenz und Existenz als Wesen unbedingter Würde mit unverbrüchlichen Rechten sind nach Kant und in christlicher Tradition schlichtweg identisch. Ihre Trennung ist sinnlos, ja zerstörerisch. Sie zerstört die sittlichen Grundlagen des Gemeinwesens.
Die Gretchenfrage an den Kanzler
Frauke Brosius-Gersdorf will biologische Existenz und Würdewesen trennen. Das ist eine grundstürzende Veränderung der ethischen Grundlagen unseres Gemeinwesens. Der Kanzler hat in seiner Antwort auf Beatrix von Storch den fatalen Anschein erweckt, er halte das für eine Petitesse. Das war eine unbegreifliche und bestürzende Fehlleistung.
Wenn Friedrich Merz will, dass dieser Anschein aufgelöst wird, muss er sich jetzt in aller Klarheit zur Unteilbarkeit der Menschenwürde bekennen. Jedwede weitere Beurteilung seiner Kanzlerschaft hängt aus christlicher Sicht an der Aufklärung dieser Frage. Es ist die Gretchenfrage der Stunde:
Friedrich, wie hältst Du es mit der Würde des Menschen?
Dr. theol. Martin Brüske
Martin Brüske, Dr. theol., geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau. Martin Brüske ist Mitherausgeber des Buches “Urworte des Evangeliums”.
Beitragsbild: Friedrich Merz, Imago Images / Panama Pictures