Die SPD strebt einen Bruch mit Menschenwürde und Lebensrecht an, dem zentralen Wertefundament unserer Verfassung und des christlichen Menschenbildes. Wollen die Unionsparteien ihr dabei wirklich sekundieren?, fragt Stephan Raabe.
In Artikel 1 des deutschen Grundgesetzes heißt es:
„(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.“
Das Recht auf Leben (Art. 2, Abs. 2 Grundgesetz) und nicht getötet zu werden, ist das ursprünglichste Menschenrecht, denn ohne dieses sind alle weiteren Menschenrechte nicht mehr zu verwirklichen. Bisher gilt: Die unantastbare Menschenwürde ist dem Menschen qua seiner Existenz eigen; sie wird ihm nicht zuerkannt und ist nicht von Bedingungen abhängig. Sie besteht mit dem Sein des Menschen und ist zu respektieren. Würde sie von diesen oder jenen Faktoren abhängig gemacht, vorrangigen „Rechten“, „Werten“, „Gütern“ anderer, wäre sie jederzeit antastbar und ein Spielball verschiedener Abwägungen.
Auch in Bezug auf den heranwachsenden Menschen im Mutterleib gelten die unantastbare Menschenwürde und das Lebensrecht. Sie bewahren ihn prinzipiell davor, zum Gegenstand einer Güterabwägung und zum rechtlosen Objekt zu werden, über das frei verfügbar entschieden wird. Reell hängt die Achtung seiner Menschenwürde aber primär von seiner Mutter ab, was zu einem Konflikt zwischen der Würde und dem Lebensrecht des heranwachsenden Menschen im Mutterleib und einer Ablehnung durch die Mutter kommen kann, wobei es für die Ablehnung unterschiedliche, auch gewichtige Gründe gibt. Da es beim Austragen des Menschenlebens schlechterdings nicht ohne die Mutter geht, nimmt der Gesetzgeber auf diese existentielle Konfliktsituation Rücksicht in den Regelungen zum Schwangerschaftsabbruch, ohne dabei jedoch das prinzipielle Lebensrecht und die Würde des Menschen im Mutterleib aufzuheben, was bisher durchgehende Rechtsprechung des Verfassungsgerichts war.
Die Haltung der katholischen Kirche ist diesbezüglich von Beginn an eindeutig: Eine direkte Abtreibung stellt ein schweres Vergehen gegen das sittliche Gesetz dar. Das Zweite Vatikanische Konzil spricht von „Abtreibung und Tötung des Kindes“ als „verabscheuenswürdigem Verbrechen“ (Gaudium et spes 51,3). Auch die formelle Mitwirkung ist ein schweres Vergehen. Beides führt dazu, dass sich die Betroffenen mit der Tat selbst aus der Kirche ausschließen. Das unveräußerliche Recht jedes unschuldigen Menschen auf Leben bildet ein grundlegendes Element der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Gesetzgebung.
(Siehe: Kongregation für die Glaubenslehre. Klarstellung zur vorsätzlichen Abtreibung, 11.7.2009)
Drohender Bruch mit zentralem Wertefundament unserer Verfassung
Die SPD strebt jedoch im Kontext einer Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs einen Bruch mit diesem zentralen Wertefundament unserer Verfassung und zugleich des christlichen Menschenbildes an. Deshalb nominiert sie mit Frauke Brosius-Gersdorf eine Hochschuljuristin, die den Schwangerschaftskonflikt durch Aberkennung der Würde und des Lebensrechts des heranwachsenden Menschen im Mutterleib zugunsten eines prinzipiellen Rechts auf Tötung lösen möchte. Kaschierend wird dafür der Begriff der „reproduktiven Selbstbestimmung“ verwendet, die ungeachtet von Würde und Lebensrecht des heranwachsenden Menschen im Mutterleib unter Bezugnahme auf die körperliche Autonomie der Frau zu einem „grundlegenden Menschenrecht“ erhoben wird, das wiederum die unbeschränkte Verfügungsgewalt über den Menschen im Mutterleib gewährt.
Als stellvertretende Koordinatorin der von der abgewählten Ampelregierung eingesetzten „Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin (Arbeitsgruppe 1)“, die eine entsprechende Neuregelung begründen sollte, führte Frauke Brosius-Gersdorf im Bericht der Kommission dazu aus:
- Erst ab der Geburt gelte das Lebensrecht des Art. 2 Abs. 2 GG mit vollwertigem Schutz; davor gelte bis ca. 24 Schwangerschaftswoche, also der Lebensfähigkeit außerhalb des Mutterleibs, nur ein gleichbleibend geringes Schutzniveau oder ein Konzept des pränatal gestuften Lebensrechts.
Begründet wird das geringe Schutzniveau mit der „existenziellen Abhängigkeit des Ungeborenen vom Körper der Schwangeren“. Von dieser Begründung aus ist es – im Gegensatz zur Meinung von Frau Brosius-Gersdorf – nicht weit, auch das Schutzniveau von Geborenen, die sich in „existentiellen Abhängigkeiten“ befinden, die als „unzumutbar“, „unwert“ oder abwägenswert angesehen werden, herabzusetzen. Neu ist das nicht in Deutschland. Leben und Würde als Spielball verschiedener Abwägungen oder weltanschaulicher Entscheidungen. Weiter heißt es:
- Es gebe gute Gründe dafür, „dass die Menschenwürdegarantie erst ab Geburt gilt.“ Aber selbst, wenn sie wie bisher für den Embryo/Fötus gelte, bestünde kein „generelles Abwägungsverbot mit den Grundrechten der Schwangeren“ und gebe es „Argumente dafür, dass die Menschenwürdegarantie durch einen Schwangerschaftsabbruch im Regelfall nicht verletzt wäre“.
Was es bedeutet, wenn die Menschenwürdegarantie durch die Tötung eines existentiell abhängigen Menschen als autonome Entscheidung nicht mehr verletzt wird, sollten wir uns sehr genau überlegen.
- In der Konsequenz wird der Güterkonflikt zwischen dem Lebensrecht des Ungeborenen und der Entscheidung der Schwangeren – den Frau Brosius-Gersdorf immerhin einräumt – bis zur 24. Schwangerschaftswoche bzw. bis zum siebten Monat einseitig und absolut zugunsten der Schwangeren gelöst, indem die Juristin fern jeder ethischen Reflexion für diesen Zeitraum „ein Recht auf Schwangerschaftsabbruch“ postuliert.
Kurz: Wenn es nach Brosius-Gersdorf geht, gilt die grundgesetzliche Menschenwürde des Ungeborenen nicht mehr oder werde zumindest durch Tötung nicht verletzt, stattdessen greift eine unabhängige, autonome Entscheidung über Leben und Tod Platz: ein selbstbestimmtes Töten.
(Siehe: Bericht der Kommission zur reproduktiven Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin, April 2024, Nr. 5, S. 27 ff.,)
Die SPD will diese Frau, die für dieses selbstbestimmte Töten eintritt, zur Bundesverfassungsrichterin machen, welches seit mehr als einem halben Jahrhundert konsequent den Vorstellungen nicht nur der Sozialdemokratie zur weitgehenden Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs im Wege steht. Wenn die Abgeordneten der Unionsparteien CDU und CSU diese Volte im Bundestag unterstützen sollten, würden sie das Wertefundament unserer Verfassung und ihrer Parteien zur Disposition stellen.
Stephan Raabe
ist als Projektleiter in Bosnien und Herzegowina tätig. Er studierte Geschichte, Kath. Theologie, Philosophie und Politik für das Schullehramt in Bonn und München, machte einen Magisterabschluss, arbeitete anschließend zehn Jahre in der Jugendseelsorge im Erzbistum Berlin, war 2002/03 Bundesgeschäftsführer des Familienbundes der Katholiken und als solcher Mitglied im ZdK, ging dann für die Konrad-Adenauer-Stiftung nach Polen und Weißrussland und leitete danach das Politische Bildungsforum der Stiftung in Brandenburg. Publizistisch setzte er sich immer wieder kritisch mit der „Weiterentwicklung“ der Kirche in Deutschland auseinander.
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