Die Serie der Auslegung des Sonntagsevangeliums durch Dr. Martin Brüske geht weiter.
Lehrgespräch über den Nächsten.
Auslegung des Evangeliums vom 15. Sonntag im Jahreskreis C Lk 10, 25-37
Nächster wird, wer sich treffen lässt von der Not des anderen Menschen und wer die Liebe tut. Sich erschüttern zu lassen bis in die Eingeweide und mit Erbarmen zu antworten, sprengt die Grenzen der Frage, wo denn die Grenze der Liebe zu ziehen sei. Das Erbarmen geht über Feindschaft und Fremdheit hinweg. Dabei handelt der Samariter wirksam und klug.
Dialog über die Tora
Das Evangelium vom barmherzigen Samariter ist einer der bekanntesten Texte der Bibel überhaupt. Das liegt natürlich an seiner ungeheuren Anschaulichkeit. Jesus ist ein Meistererzähler! Aber diese Bekanntheit birgt auch eine Gefahr: Texte, die zu bekannt sind, drohen sich abzuschleifen und ihre Tiefendimension an eine wirklich und manchmal auch nur vermeintlich bekannte Oberfläche zu verlieren. So lasst uns den Text sorgfältig anhören! Bekanntes wird sich vielleicht mit neuen Einsichten verbinden. Denn der Sinn biblischer Texte ist unerschöpflich.
Tatsächlich fängt es schon damit an, dass wir das Evangelium nicht auf die Beispielerzählung Jesu reduzieren dürfen. Die Erzählung ist eingebettet in ein echtes Lehrgespräch über die rechte Auslegung der Tora. Jesus und ein Schriftgelehrter treten in einen wirklichen Dialog über die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe und darüber, wie diese Liebe „real“ wird, wie sie zu tun und zu verwirklichen ist. In vielen Auslegungen erscheint der Schriftgelehrte dabei in einem negativen Licht. Ich glaube nicht, dass das stimmt. Die beiden Verben, die zu diesem negativen Bild führen („erproben“ und „rechtfertigen“), können situativ durchaus ein problematisches Verhalten anzeigen („erproben“ dann im Sinn von „versuchen“), können aber auch neutral verwendet werden. Ich meine, dass Letzteres hier der Fall ist. Der Schriftgelehrte zeigt zweimal Einsicht – und Jesus tadelt ihn an keiner Stelle. (In der Markus-Parallele – ohne die Erzählung vom Samariter – wird der Schriftgelehrte durch Jesus dann ausdrücklich positiv als „nicht fern von der Königsherrschaft Gottes“ charakterisiert.)
Wir haben hier ein wunderbares Beispiel für ein erzählerisch komprimiertes, aber ganz und gar echtes Gespräch zwischen zwei Juden über den Sinn der Tora. Dabei will der Schriftgelehrte in einer sehr ernsthaften Weise wissen, was Jesus zu der diskutierten Grundfrage denkt. In diesem Sinne stellt er ihn auf die Probe: Er fühlt ihm sozusagen „auf den Zahn“. Die Besonderheit Jesu leuchtet allerdings gerade darin auf, dass er diesen erfragten Sinn der Tora in einer überraschenden Wendung ganz neu erschließt. Schauen wir also genau hin!
Das Tun der Tora als Weg zum ewigen Leben
Wie muss ich handeln, um das Leben der kommenden Welt, das ewige Leben zu erlangen? Das ist die Frage nach dem Heil und nach dem Weg dorthin. Das hat nichts mit vermeintlicher Werkgerechtigkeit zu tun. Denn die göttliche Primärinitiative in der Heilsgabe des Bundes ist immer vorausgesetzt. Vielmehr geht es darum, wie ich dem Bund im Handeln so entsprechen kann, dass ich die Gabe des Bundes, die Lebensgemeinschaft mit Gott, schon jetzt und in der kommenden Welt bewahre. Jesus antwortet mit einer Gegenfrage, um aus dem Schriftgelehrten die eigene Einsicht hervorzulocken. Er fragt ihn nach der Tora, was er dort im lesenden Studium wahrgenommen hat. Auf diesem Weg der vertieften Einsicht in den Sinn der Tora wird Jesus zweimal am Ende sagen: Dann handle so! Das strukturiert unser Evangelium: Die Eingangsfrage des Schriftgelehrten nach dem Handeln und die zweimalige Aufforderung Jesu, dann jeweils entsprechend der gewonnenen Einsicht zu handeln. Darum dreht sich also unser Evangelium. Zunächst wird dabei ein Grundkonsens über den Sinn der Tora hergestellt, den Jesus mit nicht wenigen seiner toragelehrten Zeitgenossen teilt. Dann führt Jesus seinen Gesprächspartner beim Verstehen dieses Grundkonsenses auf überraschende Weise in die Tiefe.
Jesus verweist den Schriftgelehrten also auf die Tora! Denn die Gabe der Tora begründet eine Lebensform, die es Israel ermöglicht, Gott nicht zu vergessen, sondern im Gottgedenken seine Gegenwart und Gemeinschaft zu suchen und so eben dem Bund zu entsprechen. Aber worin liegt die Mitte dieser lebensförmigen Einheit von so vielen Geboten und Verboten, die ins ewige Leben führt? Wo liegt der „rote Faden“, der in und hinter all dem liegt und göttliches Leben jetzt und in Ewigkeit auftut? Das will Jesus mit seiner Frage aus unserem Schriftgelehrten herauslocken.
Die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe
Und unser Schriftgelehrter antwortet verständig! Herz, Stern und Kern der Tora ist die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe. Das ist ihre Mitte und ihr „roter Faden“. Darum geht es. Das ist das, was die Lebensform, die die Tora begründet, durchgehend realisieren möchte: Gott mit voller Hingabe lieben und den Nächsten wie sich selbst. Daran hängt sozusagen das ganze Gefüge der Gebote und Verbote. Die Verwirklichung der Einheit von Gottes- und Nächstenliebe ist ihr Sinn und ihr Kriterium. Jesus stimmt zu. Er tut dies mit nicht wenigen Gelehrten seiner Zeit. Ein fundamentaler Konsens ist unter den Gesprächspartnern hergestellt. – Aber die Diskussion ist noch nicht zu Ende.
Die kasuistische Frage: Wer ist mein Nächster?
Denn für unsere Schriftgelehrten ist mit dem grundlegenden Konsens zwischen ihm und Jesus eine weitere Frage entstanden: „Wer ist mein Nächster?“ Dahinter verbirgt sich: Wem genau habe ich Liebe zu erweisen? Wem aber auch nicht mehr? Wo liegen also die Grenzen der Nächstenliebe? Gibt es Abstufungen? Wie weit reicht die Pflicht des Gebots? Das sind natürliche Fragen. Sie ergeben sich aus dem Charakter einer allgemeinen Norm. Welche Fälle fallen darunter? Es ist die Frage der Kasuistik, in der diese Fälle untersucht und die Grenzen bestimmt werden. Wie gesagt: Diese Frage ist natürlich, wenn der Ausgangspunkt unserer ethischen Überlegungen eine allgemeine Norm ist. Und sie wird auch unter den Schriftgelehrten der Zeit Jesu eingehend diskutiert. Sie nicht zu beantworten, würde bedeuten, den Gehalt der Norm im Unbestimmten zu belassen. Sie würde dadurch entleert. Beantwortet man sie aber zu eng, droht Gruppenegoismus. Beantwortet man sie dagegen zu weit, droht Überforderung durch eine unbegrenzte Verantwortung, die niemand leisten kann. Hier wie dort steht am Ende wiederum Entleerung.
Der Entwurf eines „ordo amoris“, einer Stufung der Verantwortlichkeiten, versucht hier eine Antwort. Tatsächlich sind unsere Verantwortlichkeiten endlich und kennen Stufungen von Nähe und Ferne, Vordringlichkeit und Nachrangigkeit. Anders ist das in unseren Grenzen gar nicht möglich. Wer anderes behauptet, lügt oder hat den Bezug zur Wirklichkeit verloren: Wir können einfach nicht alles und allen Menschen gegenüber, zu jeder Zeit und im weltweiten Maßstab leisten. Denn wir selbst sind endliche Wesen und nicht Gott und sollten uns mit ihm nicht verwechseln. Allerdings ist ein „ordo amoris“ wiederum alles andere als eine Rechtfertigung für Gruppenegoismus. Denn es gibt Pflichten, die ich immer und zu aller Zeit gegenüber jedem Menschen habe, der mir begegnet. Und wir leben längst in einer global vernetzten Welt, die es ethisch nicht mehr möglich macht zu sagen: Das ist zwar bedauerlich, aber es geht mich absolut nichts an.
Wem bin ich Nächster? Jesus sprengt die Grenzen der Kasuistik durch eine Erzählung
Jesus weist die Frage des Schriftgelehrten nicht zurück. Er greift sie auf – aber er beantwortet sie in höchst eigentümlicher und absolut überraschender Weise. Er beantwortet sie nicht durch einen eigenen Vorschlag zur Kasuistik, sondern er verwandelt die Frage durch eine Erzählung radikal. Aus „Wer ist mein Nächster?“ wird „Wem bin ich Nächster?“. Sein Erzählen öffnet so einen ganz neuen Zugang zur ethischen Erfahrung der Verpflichtung zur Liebe, einer Verpflichtung, die wirklich Verpflichtung ist und zugleich mehr ist als das – und die Grenzen, Feindschaft und Fremdheit überwindet.
Die Erzählung vom barmherzigen Samaritaner
Schauen wir die bekannte Erzählung also auf diese Verwandlung der Frage hin an! Zuerst einige Hinweise zur Szenerie, die vielleicht doch hilfreich sind, um eine gute Vorstellung zu bekommen. Denn Jesus erzählt – wie gesagt – ungeheuer anschaulich. Der Weg von Jerusalem nach Jericho hat eine Strecke über die alte Römerstraße, die noch heute gut zu verfolgen ist, mitten durch die Wüste Juda, von 27 km. Der Höhenunterschied beträgt etwa 1000 m – Jerusalem liegt ungefähr auf 750 m über dem Meer, Jericho 250 m unter (!) dem Meeresspiegel. Zur Zeit Jesu war Jericho tatsächlich eine der Wohnstädte für Priester, so dass Priester und Levit auf dem Weg nach Jericho gut motiviert sind. Priester und Leviten taten ja immer nur zeitweise am Tempel Dienst und sind hier wohl auf dem Rückweg von einer solchen Dienstzeit in die Heimat. Tatsächlich war dieser Weg nicht ungefährlich. Auch das ist also realistisch. Schließlich: Die Anzahlung an den Wirt entspricht zwei Tageslöhnen für einen Tagelöhner. So weit also das Szenario.
Nun wird es nicht nötig sein, weil sie eben so bekannt ist, die Geschichte noch einmal nachzuerzählen. Ich möchte deshalb die Aufmerksamkeit auf drei sinntragende Elemente richten, in deren Mitte die entscheidende Verwandlung der Frage „Wer ist mein Nächster?“ zu „Wem bin ich Nächster?“ steht.
Wichtig sind einmal die drei kontrastierenden Figuren, die sich zunächst sowohl in der Geschichte selbst, aber auch für die Zuhörer Jesu massiv unterscheiden: der Priester und der Levit auf der einen Seite, der Samaritaner auf der anderen Seite. Auf diesem Hintergrund ist ihr wiederum kontrastierendes Verhalten gegenüber dem Menschen, der unter die Räuber gefallen ist, der entscheidende Punkt in unserer Geschichte. Die unterschiedlichen Reaktionsweisen führen zum Kern der Erzählung. Schließlich wird am Verhalten des Samaritaners noch deutlich, wie tätige Nächstenliebe aussieht, wenn sie sich entfaltet.
Tatsächlich liegt darin, dass Jesus einen Samaritaner zum eigentlichen Helden der Geschichte macht, eine ziemliche Provokation. Der Samaritaner ist der Volksfremde, der sich hier – vielleicht geschäftlich unterwegs – im jüdischen Gebiet bewegt. Zwischen Juden und Samaritanern besteht Ablehnung, ja Feindschaft. Diese Provokation Jesu ist aber präzise motiviert, sie geschieht nicht etwa aus bloßer Lust an der Provokation. Entscheidend ist: Unter Maßgabe kasuistischer Erwägungen ist für den Samaritaner der unter die Räuber gefallene Mensch, der ja aller Wahrscheinlichkeit nach kein Volksgenosse ist, sicher kein Nächster! Anders dagegen für Priester und Levit.
Die aber sehen – und gehen vorbei. Das seltene griechische Verb, das hier verwendet wird, radikalisiert dieses Vorbeigehen sogar noch heftig: Sie sehen – und eigentlich müsste man dann sagen, dass sie den verwundet daliegenden Menschen im größten denkbaren Abstand umgehen. Sie lassen sein Elend buchstäblich nicht in die Nähe kommen. Sie wollen sich nicht berühren lassen. Sie wollen die Situation und die ethische Aufforderung, die darin läge, nicht an sich herankommen lassen. Dabei ist wichtig: Es sind zwei Gottesmänner. Sie repräsentieren durch ihren Stand die Liebe zu Gott. Indem sie aber dem Nächsten nicht selber Nächster werden, verfehlen sie gerade die entscheidende Einheit von Gottes- und Nächstenliebe und damit den Sinn der Tora.
Anders der volksfremde Samaritaner. Auch er sieht – und lässt sich berühren. Er lässt das Elend an sich heran, lässt es ganz nah kommen und lässt es in sich eindringen. Das griechische Wort für „Mitleid“ und „Erbarmen“ hat tatsächlich etymologisch mit den Eingeweiden zu tun. Das Gesehene wird sozusagen nicht kalt weggedrängt, sondern es wird zugelassen, dass es mir das Innerste umdreht. Diese Bereitschaft, sich in der Tiefe bewegen zu lassen, überwindet Fremdheit, Feindschaft und Ablehnung. Der Samaritaner lässt den fremden, anderen Menschen als Nächsten an sich heran – und so wird er ihm Nächster. Damit ist in der direkten ethischen Begegnung die kasuistische Frage grundsätzlich überschritten (die aber an ihrem Ort ihren Sinn behält). Es ist eine tiefe ethische Erfahrung, in der im Antlitz des anderen Menschen die unbedingte ethische Forderung, ein unendlicher Anspruch erscheint, der mich in die Verantwortung ruft, dem anderen Nächster zu sein.
Konkret bedeutet das dann aber: Nüchtern, klug, rational und wirksam zu handeln. Heinz Schürmann bemerkt richtig, dass unser Evangelium plötzlich gesprächig wird. Ausführlich werden nun die Maßnahmen geschildert, die der Samaritaner ergreift: Das „Erste-Hilfe-Programm“, der Krankentransport, die Unterbringung, die weitere Versorgung. Unser Samaritaner sorgt umsichtig in konkretem Dienst. Er hat alle wichtigen Maßnahmen im Blick. Dazu gehört auch, dass er dies nicht alleine macht, sondern den Wirt der Herberge einbezieht.
Christus, der gute Samariter
Die Väter der Kirche haben in dem barmherzigen Samaritaner Christus gesehen, der sich über die unter die Räuber gefallene Menschheit beugt. Das ist zwar nicht der unmittelbare Sinn unseres Evangeliums, aber er erschließt doch sehr gut eine Tiefendimension unseres Textes, die objektiv da ist. Tatsächlich ist alle christliche Ethik eine Ethik der Entsprechung: Unser Handeln soll dem Handeln Gottes an uns entsprechen. Seine Barmherzigkeit soll sich in unserer Barmherzigkeit widerspiegeln, seine Vergebungsbereitschaft in unserer Vergebungsbereitschaft. Immer wieder finden wir das in der Verkündigung Jesu. Genau das gilt auch hier: Weil sich Christus, der gute Samariter, über den unter die Räuber gefallenen Menschen in Erbarmen gebeugt hat, können wir dieses Erbarmen weiterschenken und unserem Nächsten Nächster werden.
Dr. theol. Martin Brüske,
geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau. Martin Brüske ist Mitherausgeber des Buches “Urworte des Evangeliums”.
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