Die Frage, egal von wem sie kam, war berechtigt: Könne der Kanzler es mit seinem Gewissen vereinbaren, eine Richterin zu bestellen, für die die Menschenwürde erst mit der Geburt beginnt? Der Kanzler antwortete mit einem glatten „Ja“. Damit hat Friedrich Merz den menschenrechtlichen Grundkonsens hinter dem Grundgesetz verlassen. Von Martin Brüske.

Der emeritierte Tübinger Moraltheologe Dietmar Mieth hat es einmal auf den Punkt gebracht: Hinter der Idee der Menschenrechte in ihrem klassischen Verständnis, wie sie auch hinter Menschenwürdegarantie und Grundrechtskatalog des Grundgesetzes stehen, steht ein antinominalistisches Pathos. Dieses klassische Verständnis der Menschenrechte wehrt sich dagegen, dass dem Menschen Würde und Rechte nur aufgrund staatlicher Entscheidungen und gesellschaftlicher Konstruktion zu eigen sind. Sie sind kein bloßes Wort, kein „Nomen“, das dem Menschen nur als Etikett angeheftet wird. Denn das macht den ursprünglich Rechts- und Würdestatus eines Menschen zur Verfügungsmasse anderer Menschen. Was erst zugesprochen werden muss, kann auch wieder abgespochen werden. Das öffnet der Willkür Tür und Tor: Plötzlich ist der jüdische Mensch oder der Kulacke, der ungeborene Mensch (und bald auch das Kleinkind? Wie bei den Römern?) und der Schwerstbehinderte, der komatöse Mensch, kein Mensch, keine Person mit Würde und Rechten mehr.

Menschenwürde und Menschenrechte in ihrem klassischen Verständnis wehren sich genau gegen so eine Teilung des Menschlichen und sie halten dagegen: Wer Mensch ist im Sinne der schlichten biologischen Zugehörigkeit zur Art Mensch, ist Träger von Würde und Rechten. Und zwar vom ersten Augenblick bis zum letzten seiner irdischen Existenz. Sie werden von der Rechtsgemeinschaft nicht konstituiert, sondern sind ihr absolut bindend vorgegeben. Würde ist eine innere, objektive Bestimmung jeden Menschseins. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, besonders auch zum § 218 des Strafgesetzbuches, beruht auf dieser Sicht. Diese Sicht bestimmte den antitotalitären, menschenrechtlichen Grundkonsens hinter dem Grundgesetz, erwachsen aus den schrecklichen, grauenhaften Erfahrungen mit der verbrecherischen Unmenschlichkeit der totalitären Regime des 20. Jahrhunderts.

Seit ungefähr 20 Jahren wird dieser humanitätssichernde Konsens von einer jüngeren Generation von Juristen aufgekündigt. Matthias Herdegen, Horst Dreier und Reinhard Merkel seien hier genannt. Und jetzt auch – ganz offensichtlich – Frauke Brosius-Gersdorf. Durch ihre Einlassung, die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zu § 218 beruhe auf einem naturalistisch-biologistischen Fehlschluss, ist sie hier eindeutig zuzuordnen. Dahinter steht die fatale Trennung von biologischem Menschsein und allein Würde und Rechte tragendem Personsein. Wer Mensch ist in dieser Sicht, der ist noch lange nicht Person. Und mit „bloßen“ Menschen kann ich – bis hin zur Tötung – alles Mögliche anstellen. Da ist sie wieder, die Teilung des Menschseins, die Teilung, die Arier mit Rechten von Juden ohne Rechte und Parteigenossen mit Rechten von Klassenfeinden ohne Rechte trennt. Wollen wir das?

Natürlich, hier steht weder nationalsozialistisches noch bolschewistisches Gedankengut dahinter, nein es ist ein bürgerlich daherkommender, aber philosophisch platter und zugleich raffiniert sophistischer Utilitarismus, der dahinter steht und der durch einen sophistischen Scharlatan wie Reinhard Merkel im deutschsprachigen Raum verbreitet wurde. Letztlich steht dahinter eine schlechte, ungeklärte Ontologie des Personseins. (Das ist Stoff für weitere Artikel.) Aber was ist der Unterschied zu den Gedankengängen der totalitären Ideologien, wenn als Folge der Beseitigung des angeblichen „biologistisch-naturalistischen Fehlschlusses“ von Frau Prof. Brosius-Gersdorf schwerstkomatöse Menschen in der utilitaristischen, angelsächsischen Bioethik, der sie sich offensichtlich verpflichtet weiß, als „human vegetable“ („menschliches Gemüse“) bezeichnet werden. Noch einmal: Wollen wir das?

Ich jedenfalls nicht! Ich bin schockiert, traurig und ratlos – und aufs höchste alarmiert: Mit seinem emphatischen „Ja“ zur Wählbarkeit von Frauke Brosius-Gersdorf hat Friedrich Merz den antitotalitären, menschenrechtlichen Grundkonsens, der am Anfang unseres Gemeinwesens stand, schlicht und ergreifend aufgekündigt.

Dankbar bin ich dafür umso mehr zwei deutschen Bischöfen: Stefan Oster und Rudolf Voderholzer haben das eiserne schändliche Schweigen der offiziellen deutschen Kirche, die in einer den ethischen Grundcharakter unseres Staates betreffenden Frage nicht mehr zustande brachte als eine vage Randbemerkung des Prälaten Jüsten, kraftvoll und präzise durchbrochen. Sie bringen auf den Punkt, worum es geht: “Es darf in Deutschland nie wieder Menschen zweiter Klasse geben.”


Dr. theol. Martin Brüske
Martin Brüske, Dr. theol., geb. 1964 im Rheinland, Studium der Theologie und Philosophie in Bonn, Jerusalem und München. Lange Lehrtätigkeit in Dogmatik und theologischer Propädeutik in Freiburg / Schweiz. Unterrichtet jetzt Ethik am TDS Aarau. Martin Brüske ist Mitherausgeber des Buches “Urworte des Evangeliums”.


Beitragsbild: Prof. Frauke Brosius-Gersdorf (Juristin) am 25. Juli 2024 in einer Talkshow bei Markus Lanz

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