Identität und vor allem Identitätspolitik sind zu einem Thema geworden, an dem sich die Geister scheiden. Nicht nur unterschiedliche Zugänge, sondern auch die Anforderungen eine Identität auszubilden, sind in einer immer komplexeren Gesellschaft zu einer Herkulesarbeit für jeden und jede geworden. Wenn man das Glück hat oder hatte, in einem Dorf groß geworden zu sein, werden wichtige Facetten dieser Idenditätsbildung sub specie temporis frei Haus geliefert. Das war nicht immer so, meint Helmut Müller nach Erfahrungen, die er bei der Beisetzungsfeier eines Klassenkameraden gemacht hat.
“Im Dorf begegnet man noch Urformen des Seins” (Peter Wust)
Es war mal wieder Zeit, heim ins Saarland zu fahren. Ein lieber Freund kommentierte das mit „in den Urwald“ fahren. Das kann einen Saarländer aber nicht schockieren, da das Saarland ja bekanntlich dafür herhalten muss, als Ur-maß für Katastrophen in Quadratkilometern zu dienen, etwa der Art von „Verwüstungen so groß wie das Saarland“ – oder „eine Flammenhölle halb so groß wie das Saarland“, oder ähnlich. Wo wir damit schon bei Ur-Begriffen für Ur-Sachen sind, hatte ich geantwortet, dass von Peter Wust – auch ein Saarländer – das Wort stammt: „Im Dorf begegnet man noch Urformen des Seins.“ Ich ahnte nicht, wie zeichenhaft wirklich das werden sollte.
Der Dorfname Jesu – „dem Schräiner Sepp oder Jupp säi Bub“
Eigentlich wollte ich nur wieder einmal nach Hause fahren. Im Vorfeld meiner Überlegungen aber erfuhr ich, dass ein Klassenkamerad gestorben sei, was dazu führte, dass ich den Besuch mit der Beisetzung auf dem Friedhof verband. „Dä Wäiß“ (Der Weiße) wurde von einem Nachbarn tot im Bett gefunden. „Dä Wäiß“ war sein Dorfname, er hatte diesen Namen seit seiner Kindheit, da er offenbar als kleiner Junge weißblond gewesen war. Den hatte er 72 Jahre lang behalten, ohne dass er irgendwie durch eine andere Besonderheit ersetzt worden wäre. Jesus wäre bei uns im Dorf wohl „dem Schräiner Sepp oder Jupp säi Bub“ (der Sohn von Josef, dem Schreiner) genannt worden.
Handwerk und Dorfgeographie als Herkunftshorizonte
Wer es selber in unserem Dorf zu was gebracht hatte – meistens durch ein Handwerk, wurde danach genannt, oder auch umgekehrt nach unangenehmen Eigenschaften, etwa wenn man leicht reizbar war, mit anderen Worten, eine kurze Zündschnur hatte, war „Rotglierisch“ (rot glühend = wütend) mehr als passend. Verdienste, handwerkliche Fertigkeiten konnten dann auch über mehrere Generationen einen Namen abgeben. Beim Wäiß war weder das eine noch das andere der Fall. Er kam auf die Welt, ohne von seiner Herkunft definiert worden zu sein und verließ sie wieder, ohne dass er sich so oder so einen Namen gemacht hatte. Nicht einmal die dörfliche Geographie war Namensgeber, wie etwa beim einzigen Prominenten aus unserem Dorf, der es zu einer hohen politischen Position gebracht hatte. Weil er kein Handwerker war, musste die Dorfgeographie als Namensgeber herhalten. So verließ er das Dorf als „em Eckener Lui säi Bub“ in die hohe Politik. Sein Vater – auch kein Handwerker – kam nämlich auß’m Ecken. Ich bin der Sohn eines Bergmanns, weil das fast jeder Mann im Dorf war, musste mein Opa – ein Schuster – für mich und meinen Vater als Namensgeber fungieren, so wurde ich zu Schumacher Welm säi Bub, oder weil mein Bruder es zu was gebracht hat em Gipser Hans säi Bruder.
Es kann durchaus sein, dass die Dorfgeographie die Lebensbiographie vom Wäiß ähnlich bestimmt hat wie die meiner Mutter: Ihre Wiege stand nur etwa 5 Meter von ihrem Sterbebett entfernt. Unfassbar, wie weit und komplex heute Horizonte sein können, wenn in einer Biographie zwischen Herkunft und Zukunft ein Migrationshintergrund liegt und so Identität gefunden und gebildet werden muss.
Soziale Identität in einem Dorfhorizont
Dagegen verließ Dä Wäiß die Welt offenbar fast so wie er in sie gekommen war, kahlköpfig mit zuletzt schütterem Haarkranz. Seine berufliche Tätigkeit, zu einer Gleisbaurotte gehörend, war nicht so malerisch wie in einer Märklin-Eisenbahn, für die man eine solche 30-teilig kaufen kann und konnte daher nicht sein weißblondes Kommen in die Welt ersetzen. Es gelang ihm auch nicht, eine Familie zu gründen und die schwere berufliche Tätigkeit führte möglicherweise auch dazu, dass er alkoholkrank wurde, was auch zu einer abfälligen Bemerkung führte, als ich mich nach seiner letzten Tätigkeit erkundigte: Er hätte schon Probleme gehabt, in das Horn zu stoßen, um seine Kollegen zu warnen, wenn sich ein Zug seiner Arbeitskolonne näherte. Wann sein Leben als Arbeiter in einer Gleisbaurotte aus den Gleisen geriet, weiß nur der liebe Gott. Außer einem Neffen hatte er keine Angehörigen mehr.
Was ist noch von ihm zu sagen? Was Delikates! Wie soll ich’s ausdrücken, dass weder er noch die Betroffene in ein schiefes Licht gerät? Ich denke, ein geraubter Kuß ist passend. Eine aus der Trauergemeinde sagte, das sei ihre wohl mehr als 50 Jahre alte Erinnerung an ihn und dass sie dadurch Probleme mit ihren Eltern bekommen habe. Lassen wir das so stehen. Ich habe ihn in Erinnerung als „gutter Kerl“, was von allen bejaht wurde.
Weihwasser als Identitätsmarker des Herkunftshorizontes von uns allen
Was war also seine Lebensleistung? Hm, wenn es mehr von ihm in dieser Berufsgruppe gäbe, wäre ich bei meiner Ankunft in Saarbrücken vielleicht nicht überrascht worden mit der Ansage: „Zug fällt aus“, sodass mein Neffe mich abholen musste, um in unser Dorf zu kommen.
Bei diesen biographischen Daten war ich ziemlich überrascht, dass sich nach und nach gut 100 Leute auf dem Friedhof einfanden, zumal er ja keine Angehörigen mehr hatte. Das bedeutete, dass beinahe jeder Zehnte der Dorfbevölkerung anwesend war. Sollte jemand bis hierher interessiert, aber verständnislos meinen Ausführungen gefolgt sein, dann ist er mit mir wohl erstaunt, dass so viele kamen. Das war überhaupt erst der Grund, weshalb ich hier am Schreibtisch sitze. Die Feier selbst war würdevoll und passend, auch wenn liturgische Ansprüche nur marginal befriedigt wurden. Alle Teilnehmer konnten der von einer Gemeindereferentin geleiteten Trauerfeier auch mit den richtigen Antworten und Gesten in der Begräbnisliturgie folgen. Übrigens da fällt mir ein: Michel Houellebecq, Atheist und Möchtegernkatholik findet katholische Liturgien wunderschön (etwa Minute 29). Aber zurück aus dem weiten und ganz anderen Welthorizont eines Weltbürgers aus Paris ins Dorf im Saarland: Kein Kreuz wurde an der falschen Stelle gemacht. Auch das Weihwasser ist von jedem mit richtigem Segensgestus getätigt worden. Wer auch immer verfügt hatte, dass Harald Juhnkes – wie Juhnke es selbst nannte – seine persönliche Nationalhymne mit Text abgespielt wurde, ließ erkennen dass „em Wäiß säi Läwe“ punktgenau getroffen wurde. Das war jedenfalls der ständige Refrain, den man danach von jedem – und jetzt gendere ich nicht und schreibe bewusst – auch jeder – hören konnte: Vielleicht sind ja ein geraubter Kuss – oder auch nicht geraubt – wer weiß – öfters vorgekommen. „Dä Wäiß“ war in seiner Jugend schon ein attraktiver Bursche. Nur eines passte nicht im Text von Harald Juhnke. „Dä Wäiß“ musste nicht vor einer Ehefrau Abbitte leisten. Ob er Abbitte vor anderen Frauen hätte leisten müssen, weiß nur er selbst.
Harald Juhnke und Dietrich Bonhoeffer als Marker des Profanen und Heiligen
Die ganze Feier wurde dann – egal wie er vor dem ewigen Richter erscheinen wird – noch „Von guten Mächten treu und still umgeben“ abgerundet, aber jetzt nicht mehr in ein Neues Jahr geführt, wie es im Text heißt, sondern hoffentlich in die Ewigkeit. Der Song von Harald Juhnke und das Liedgedicht von Dietrich Bonhoeffer schien mir ein Sinnbild zu sein wie auch ein holpriges Leben, das alle Anzeichen von Scheitern mit sich führte, letzten Endes doch in die barmherzigen Arme Gottes – wie soll ich sagen – stolperte. Ich fand das tröstlich, zumal nach der Feier noch der Tod eines weiteren Klassenkameraden vermeldet wurde und was mich besonders traf, einer von vieren mit meinem Vornamen. Jetzt sind wir nur noch drei. Mircea Eliade als Religionswissenschaftler und Autor des Profanen und das Heilige hätte hier Feldforschung treiben können.
Einsamkeit – Verlust der sozialen Identität
Und nun zur Moral von der Geschicht’: Im Dorf begegnet man noch Urformen des Seins. Worum Menschen heute verzweifelt ringen und worunter laut dem Psychiater und Philosophen Thomas Fuchs 60 Prozent der Bürger der Vereinigten Staaten leiden, und bei uns wohl nicht weniger, wurde hier noch in hohem Maße frei Haus, ohne besondere Leistungen geliefert, nämlich soziale Identität. „Dä Wäiß“ lebte zwar allein, war aber nicht einsam – denn daran leiden die statistischen 60 Prozent. Selbst im Tod waren noch gut 10 Prozent der Dorfbevölkerung an seinem Grab versammelt. In einem Dorfhorizont bleibt menschliches Leben noch überschaubar. Man sieht den Himmel über sich und die Natur um sich und begegnet damit nicht nur den eigenen Werken wie in der Stadt von sich und seinesgleichen. Wie in der biblischen Geschichte vom Turmbau zu Babel ist man geneigt, ohne den Bauherrn der Welt seine Umwelt zu bauen. Wie sehr darum gerungen wird und auf welche Abwege man dabei geraten kann, zeigen die manchmal tatsächlich gruseligen Umstände, die mit Identitätspolitik heute verbunden werden, wenn man seine Identität finden will ohne die Vorgaben des Schöpfers zu beachten.
Communio sanctorum – soziale Identität über das Grab hinaus
Und noch eine weitere Moral von der Geschicht’: Wer sie tief nacherleben möchte, sollte sich die beiden Verlinkungen zu Harald Juhnkes Song und Dietrich Bonhoeffers Liedgedicht anhören: Der Glaube Bonhoeffers und auch mein Glaube und hoffentlich auch der vieler Leser dieses Beitrages, zeigt auf eine weitere Identität hin. Auch diese gilt es zu finden, und zwar geht es um eine weitere Urform des Seins. Sie sollte realisiert werden können, egal wie bedrängend die vier faustischen Weiber Goethes, die an jedem Lebensweg lagern, wirksam werden: Mangel, Schuld, Sorge, Not. Diese Urform, die Peter Wust in seinem Leben einmal verloren, aber wieder gefunden hatte, reicht über jede Dorfgemeinschaft hinaus und in die communio sanctorum – in eine Gemeinschaft des Heils – hinein. Leider ist der Weg dahin auch in unserem Dorf keine Hauptstraße mehr, sondern nur noch ein Trampelpfad. Allerdings gilt für alle Lebenswege, seien es Boulevards oder Feldwege: Sie führen alle durch vielfältiges Unheil, wie Goethe es in seinem Faust durch die vier grauen Weiber symbolisiert. Aber wir sollten nicht nur in diesem Heiligen Jahr Pilger der Hoffnung sein, deren Weg schließlich in eine endgültige Gemeinschaft des Heils führt. Die Stimmung auf dem Friedhof war so: Da gibt es einen Weg vom dörflichen zu Hause in das Daheim des Himmels. Die Franzosen können das mit einer Beziehungskategorie besser ausdrücken mit “Chez nous” – bei uns oder unter uns im Himmel.
Die Fahrt nach Hause hat mir gezeigt wie erstaunlich einfach wenigstens eine Facette von Identitätsbildung, nämlich soziale Identität im Leben des Verstorbenen erreicht worden ist. Die Identitätsbildung sub specie aeternitatis kam dadurch ins Blickfeld, egal wie sie in diesem zu Ende gegangenen Leben gelungen ist. Ich hoffe es genügt, „äh gutter Kerl“ wie Dä Wäiß gewesen zu sein. Die Fahrt in den Ur-wald – wie mein lieber Freund meinte – hat sich für mich wirklich gelohnt, auch wenn die deutsche Bundesbahn immer mehr zu einem fünften grauen Weib, das Goethe so noch nicht kannte, mit dem Makel Unzuverlässigkeit wird, das zunehmend an Bahnstrecken lagert.
Philosoph und Theologe, akademischer Direktor am Institut für Katholische Theologie der Universität Koblenz. Autor u.a. des Buches „Hineingenommen in die Liebe“, FE-Medien Verlag. Helmut Müller ist Mitautor des Buches „Urworte des Evangeliums“.
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