Immanuel Kant und Magnus Striet – eine Mésalliance. Warum der Königsberger Philosoph nicht als Übervater des Synodalen Weges taugt und das Genie vor seinen falschen Freunden geschützt werden muss. Wer die Sexualmoral der katholischen Kirche in Frage stellen möchte, sollte sich jedenfalls in der Argumentation nicht auf Kant beziehen. Dies hat Pater Recktenwald bereits vor sechs Jahren in einem eindrücklichen Text deutlich gemacht, den wir aus gegebenem Anlass in Erinnerung rufen.

Der Synodale Weg, Magnus Striet und Co.

Immanuel Kant feierte gerade seinen 300. Geburtstag. Aber noch nie musste man ihn so wie heute vor falschen Freunden schützen. Vor Theologen beispielsweise, die ihn vor ihren Karren spannen. Etwa vor Magnus Striet. Für ihn ist Kant das Fünfte Evangelium. Striet stilisiert ihn zum Kirchenvater des Synodalen Weges. Dabei hat er ihn gar nicht richtig verstanden und verirrt sich so permanent wie lautstark in einem Geflecht von Fehldeutungen. Kants Begriff von der Autonomie hat wenig bis nichts zu tun mit einer sexualethischen Aushandlungsmoral wie sie uns von Striet, Goertz und Co. als „Selbstbestimmung“ verkauft wird. Diese Vereinnahmung wurde längst widerlegt. Trotzdem bekommt Striet auf katholisch.de wieder die große Bühne; in einem großen Interview treibt er die illegitime Okkupation von Kant ins Groteske. Schon vor fünf Jahren hat der Spaemann-Schüler und ausgewiesene Kant-Kenner Pater Engelbert Recktenwald Striet argumentativ auseinandergenommen – sachlich, genau, klar, aus präziser Kenntnis der kantischen Texte und Kontexte. Kant war ein Genie. Lesen Sie selbst, wie ein echter Kant-Spezialist den Meister vor seinen falschen Freunden schützt:

Der folgende Artikel von Pater Engelbert Recktenwald erschien am 20.11.2018 bei CNA

Der missbrauchte Kant

Warum Kants Autonomie bei Ratzinger besser aufgehoben ist als bei Magnus Striet

Der katholische Theologieprofessor Magnus Striet beruft sich für seine Forderung nach grundlegenden Änderungen der kirchlichen Morallehre auf die Kantische Idee der Autonomie. Zu seinen Forderungen gehört z.B. die Anerkennung homosexueller Partnerschaften. Für Striet ist Autonomie das Signum der Moderne. Er versteht darunter „individuelle Selbstbestimmung“. Ihre einzige Grenze findet dieselbe an der individuellen Selbstbestimmung des Mitmenschen. Mit anderen Worten: Solange ich anderen Menschen nicht in die Quere komme, kann ich tun und lassen, was ich will. Als Kronzeuge für diese Auffassung beansprucht Striet den großen Philosophen Immanuel Kant. Dieser ist sein Leib- und Magenphilosoph.

Dabei unterschlägt Striet einen wesentlichen Aspekt der Autonomie, wie Kant sie versteht. Kant betrachtet Autonomie in erster Linie als die Emanzipation von sinnlichen Antrieben. Autonom ist für Kant der Mensch gerade dann, wenn nicht Lust- und Glücksverlangen ihn antreibt, sondern die Vernunft, und das heißt für Kant: die Achtung vor dem Sittengesetz. Kants kategorischer Imperativ ist ein Faktum der Vernunft. Indem der Mensch das moralisch Gute tut, handelt er als Vernunftwesen, gewinnt Autonomie und erhebt sich über das Instinkthafte, das er mit den Tieren gemeinsam hat.

Damit rehabilitiert Kant gegenüber Hume ein Vernunftkonzept, das der Würde des Menschen angemessen ist. Für Hume war die Vernunft eine Sklavin der Leidenschaften: „Vernunft ist und sollte nur der Sklave der Antriebe sein und insofern nie vorgeben, einem andern Geschäft nachzugehen, als ihnen zu dienen und zu gehorchen“, schrieb Hume. Kant dreht das Verhältnis wieder um: Der Mensch ist dazu berufen, sich aus der Herrschaft seiner sinnlichen Neigungen zu befreien, indem er die Gesetzgebung der Vernunft anerkennt und sittlich gut handelt. Die Vernunft ist für Kant nicht nur die Gerissenheit desjenigen, der seinen Verstand zu gebrauchen weiß, um jene Ziele zu erreichen, die ihm seine sinnlichen Antriebe oder egoistischen Interessen vorgeben. Vielmehr ist die Vernunft das Vermögen, sein Handeln unabhängig von den sinnlichen Antrieben zu bestimmen. Das ist für Kant Autonomie. Darin besteht Moralität und eben darin auch die Freiheit, zu der der Mensch berufen ist. Autonomie ist die Fähigkeit des Menschen, sich aus der Humeschen Sklaverei zu befreien und moralisch zu handeln. Mit anderen Worten: Ein Mensch, der nicht aus Pflicht, sondern aus Neigung handelt, ist für Kant heteronom, fremdbestimmt, nämlich von den Gütern, die ihn vermittelst seines sinnlichen Strebevermögens gefangen halten. Frei wird er erst, wenn er den moralischen Standpunkt einnimmt und statt dessen aus Pflicht handelt.

All dies spielt bei Striet keine Rolle. Der Gedanke der individuellen Selbstbestimmung nimmt im Kontext des heute vorherrschenden Hedonismus eine Bedeutung an, die der von Kants Autonomie krass entgegengesetzt ist.

Striet hebt dagegen einen anderen Aspekt von Kants Autonomiekonzept hervor, den der Selbstgesetzgebung. Diese Selbstgesetzgebung ist bei Kant aber keine des Individuums. Gesetzgeber ist bei ihm nicht der individuelle Mensch, sondern die praktische Vernunft, die allen Menschen gemeinsam ist. Scholastisch ausgedrückt: Die Vernunft gehört zur Natur des Menschen, die ihm vorgegeben ist. Kant dehnt die Allgemeingültigkeit des Sittengesetzes sogar noch weiter aus: Denn für ihn ist die praktische Vernunft ein und dieselbe nicht nur bei allen Menschen, sondern bei allen überhaupt denkbaren Vernunftwesen. Daraus ergibt sich für ihn eine strikte Allgemeinheit des Sittengesetzes für alle möglichen Welten, über alle Grenzen der Zeiten und der Kulturen hinweg. Und er hat Recht. Ein Beispiel: Wenn „Lügen“ moralisch verwerflich ist, dann ist es das nicht nur, wenn Menschen lügen, sondern auch dann, wenn Engel lügen oder sogar wenn Gott lügen würde. Das entspricht unserer moralischen Intuition. Wenn wir sagen, dass Gott gut ist, dann wollen wir damit auch ausschließen, dass Gott uns belügen und betrügen könnte. Wie selbstverständlich beanspruchen wir für die moralischen Normen eine Allgemeingültigkeit, die selbst für Gott gilt. Übrigens setzen gerade auch jene Atheisten diesen absoluten moralischen Maßstab voraus, die aus dem Theodizeeproblem ein Argument gegen Gott machen.

Kant knüpft also das Sittengesetz kraft seines kategorischen Imperativs an eine solch strikte Allgemeingültigkeit, dass er selber einen strengeren Rigorismus vertritt als denjenigen, den Striet dem christlichen Naturrechtsdenken vorwirft. Striets einschlägige Polemik gegen Joseph Ratzinger fällt deshalb auf seinen eigenen Kronzeugen zurück. Wenn er Ratzinger etwa vorwirft, dass er immer schon weiß, was die Vernunft will, so muss man sagen, dass Kant es noch besser weiß. Kant entwirft eine Metaphysik der Sitten, die auch Pflichten des Menschen gegen sich selbst kennt. Für Kant ist die Idee der Autonomie eben gerade nicht ein Freibrief zu einer „individuellen Selbstbestimmung“ innerhalb der Linien einer notwendigen Schadensbegrenzung, sondern die Strukturierung der eigenen Lebensführung unter moralischem Gesichtspunkt. Seine Entfaltung des Sittengesetzes bis hin zur Verurteilung der „wollüstigen Selbstschändung“ steht der Stringenz der christlich geprägten Naturrechtsidee in nichts nach. Ja, bei Kant ist dem einzelnen Menschen das Sittengesetz in einer Weise vorgegeben, die ihm in manchen Bereichen noch weniger Spielraum lässt als die katholische Morallehre. Kant ist rigoristischer als die Kirche.

Natürlich könnte man einwenden, dass Kants Ableitung (Deduktion) mancher Inhalte des Sittengesetzes aus dem kategorischen Imperativ nicht schlüssig sei. Das stimmt. Der klassische Einwand gegen Kants ethischen Ansatz insistiert ja tatsächlich auf der Unmöglichkeit, aus dem Begriff der Pflicht den Inhalt aller Pflichten abzuleiten, ohne weitere substanzielle moralische Annahmen vorauszusetzen, sei es etwa den aristotelischen, teleologisch gefassten Begriff einer Natur, wie ihn Spaemann zu rehabilitieren versucht, sei es materiale Werte, wie sie Scheler in seiner Ethik herausarbeitete, um den Formalismus Kants zu überwinden. Aber all diese Differenzen zwischen klassischem Naturrecht, materialer Wertethik und Kants Pflichtethik sind Peanuts im Vergleich zum Abgrund, der sich zwischen ihnen auf der einen und Striet auf der anderen Seite auftut.

Während jene drei Ethikkonzepte davon ausgehen, dass moralische Normen den Menschen vorgegeben sind, hält Striet sie für menschengemacht. Der Mensch entscheide in eigener Instanz darüber, was gut und richtig sei. Mit Vehemenz wendet er sich gegen die Ausführungen der Enzyklika „Veritatis splendor“ (1993), denen gemäß das Gewissen keine autonome Instanz sei, um zu entscheiden, was gut und was böse sei, sondern sich nach „der universalen und objektiven Norm der Sittlichkeit“ zu richten habe. Wie tief der Abgrund ist, der ihn von der katholischen Lehre trennt, macht er selber deutlich, wenn er seinen „Gott der Autonomiefreiheit“ dem „Gott von Veritatis splendor“ gegenüberstellt.

Doch dieser Gegensatz zur katholischen Lehre ist nicht unser Thema. Das mag den zuständigen Bischof stören. Was den Philosophen stört, ist Striets Berufung auf Kant. Es dürfte deutlich geworden sein, dass sich Striets Ethik von der Kants nicht nur in den Ergebnissen, sondern schon im Ansatz unterscheidet. Für Kant ist die Autonomiefreiheit nicht die Quelle der Moralität, sondern im Gegenteil die Frucht einer moralischen Einstellung, nämlich das Ergebnis einer „Revolution der Denkungsart“, wodurch der einzelne Mensch sich entscheidet, in allen einschlägigen Situationen nur noch aus Pflicht zu handeln. Erst dadurch wird er zum Subjekt der Selbstgesetzgebung, dass er sich den kategorischen Imperativ zu eigen macht und sich mit der in ihm sich manifestierenden praktischen Vernunft identifiziert.

Weil Benedikt XVI. mit Kant und dem klassischen Naturrecht an einem antiindividualistischen Moralverständnis festhält, wirft Striet ihm vor, die Moderne nicht zu verstehen. Mit größerem Recht kann man Striet vorwerfen, Kant nicht zu verstehen. Und wenn Striet die von ihm konzipierte „Autonomiefreiheit“ mit dem „neuzeitlichen Freiheitsbegriff“ identifiziert, kreiert er einen Mythos, mit dem er nur ein Publikum zu beeindrucken vermag, dem nicht bewusst ist, dass es diesen neuzeitlichen Freiheitsbegriff gar nicht gibt: Hume, Kant, Nietzsche, Sartre, die Exponenten der analytischen Philosophie oder des Naturalismus, um willkürlich nur einige Vertreter der Neuzeit herauszugreifen: Sie alle haben ganz verschiedene Freiheitsbegriffe. Keiner von diesen ist der neuzeitliche Begriff, auf den Striet sich beruft. Der Naivität, mit der er seinen eigenen Freiheitsbegriff mit dem der Neuzeit in eins setzt, entspricht die Leichtfertigkeit, mit der er die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. von oben herab abkanzelt. Stefan Hartmann hat ihm deshalb Theologenarroganz vorgeworfen.

In unserer Thematik gibt es einen relevanten Punkt, in dem Kant und Striet übereinstimmen, nämlich die Rolle Gottes. Gott zu gehorchen bedeutet für Kant Fremdbestimmung. Es kann für ihn keine göttlichen Gebote geben. Es ist allein das durch die natürliche Vernunft gegebene und erfassbare Sittengesetz, dem der Einzelne zu gehorchen hat und dem allein er gehorchen kann, ohne seine Autonomie zu verlieren. Diese Auffassung würde zutreffen, wenn das Sittengesetz unabhängig von Gott existieren würde. Wenn Gott und Sittengesetz zwei getrennte Instanzen wären, dann müsste man sich Gott, um ihn als gut bezeichnen zu können, dem Sittengesetz unterworfen denken. Außerhalb des Sittengesetzes hat Gott dann keine Autorität mehr über uns. Er kann von uns nichts verlangen, was wir nicht sowieso schon zu tun verpflichtet sind. In Wirklichkeit kann und muss man sich das Verhältnis mit John Henry Newman aber so denken, dass die Autorität des Sittengesetzes die Autorität Gottes ist. Das Sittengesetz, der kategorische Imperativ, die allen Menschen gemeinsame und vorgegebene praktische Vernunft sind nicht freischwebende Abstrakta über unseren Köpfen, sondern Gott selber, wie er uns in der in uns verwirklichten Vernunft erscheint. Gott ist das Gute. Er ist die Güte in Person. Oder umgekehrt: Das Gute ist göttlich, ist personal, ist vernünftiges Subjekt. Es ist gleich, ob ich Gott mit dem Guten oder das Gute mit Gott identifiziere, ob ich Gott das Prädikat der Güte zuschreibe oder das Gute mit personalen und göttlichen Zügen ausstatte. Die Frage, ob Gott dem Sittengesetz über- oder untergeordnet ist, setzt eine Differenz zwischen beiden voraus, die mit der hier gedachten Identität gerade geleugnet wird. Wegen dieser Identität kann es deshalb in „Veritatis splendor“ auch heißen: „In der Tat bedeutet sich nach dem Guten zu fragen letzten Endes, sich Gott, der Fülle des Guten, zuzuwenden.“ Theonomie fällt deshalb mit Autonomie und nicht mit Heteronomie zusammen.

Zu solchen Reflexionen vermag Striet nicht vorzudringen. Er liest „Veritatis splendor“ hartnäckig heteronomistisch, weil er mit Kant sich Gott vom Sittengesetz getrennt vorstellt. Ob es Gott wirklich gibt, weiß er eh nicht. Doch wenn man sich schon einen Gottesbegriff bildet, muss er dem Strietschen Autonomiekonzept unterworfen werden. Wie Kant denkt er sich Gott dem Sittengesetz untergeordnet. Weil dieses aber bei Striet individualisiert ist, nimmt diese Unterordnung skurrile Züge an. Man hat stellenweise den Eindruck, als ob Striet Gott wirklich vorschreiben wolle, wie er zu sein hat. Es ist logisch, dass in Striets Denken die übernatürliche Offenbarung als Quelle ethischer Erkenntnis keine Rolle spielt. Die Moderne wird nicht im Licht Jesu Christi beurteilt, sondern umgekehrt das Evangelium im Licht der Moderne. Das Konzept läuft auf Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft hinaus.

Es ist tragisch, dass ein katholischer Theologe zwar Kants Grenzen übernimmt, nicht aber seine Einsichten, die zu einem tieferen Verständnis der Moralität führen.


Pater Engelbert Recktenwald,
Jahrgang 1960, ist Priester der Petrusbruderschaft und Schüler von Robert Spaemann. Er betreibt das „Portal zur Katholischen Geisteswelt“ und wirkt als Seelsorger in Hannover.


Den Text von Pater Recktenwald finden Sie hier als Hörfassung.
Wir empfehlen einen weiteren Beitrag von Pater Engelbert Recktenwald zu Magnus Striet: „Wie groß darf Gott sein? – Mit Hiob über Striets Gottesbegriff nachdenken“

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