Die katholische Kirche gilt als Hotspot sexuelle Gewalt. Aber: Werden Priester wirklich häufiger zu Tätern als andere Männer? In der Tageszeitung die Welt hat Prof. Dr. Harald Dreßing, Leiter der Forensischen Psychiatrie am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, Ende Juni 2022 unter dem Titel: „So häufig werden Priester im Vergleich zu anderen Männern zu Missbrauchstätern“ eine ausführliche Analyse der Zahlen aus der MHG-Studie veröffentlicht. Dreßing ist als Koordinator der 2018 vorgestellten MHG-Studie zum Missbrauch innerhalb der Katholischen Kirche der Experte zu diesen Zahlen. Dabei wurden für den Zeitraum von 1946 bis 2015 unter anderem mehr als 38.000 Personalakten von katholischen Klerikern in Hinblick auf Missbrauchsbeschuldigungen analysiert. Sein Fazit:

„Einerseits ist die Vorstellung, dass die besonderen moralischen Anforderungen an den Priesterberuf mit einer im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung deutlich niedrigeren Quote beschuldigter Kleriker einhergehen, nicht zutreffend. In vier Jahren des Untersuchungszeitraums war die Quote beschuldigter Kleriker sogar etwas höher als in der männlichen Allgemeinbevölkerung, und zumindest bis 2015 zeigte sich in diesem Untersuchungszeitraum keine abnehmende Tendenz bei den Klerikern.
Andererseits geht von katholischen Klerikern aber auch kein signifikant höheres relatives Risiko aus als von der männlichen Allgemeinbevölkerung. Der aus der medialen Berichterstattung manchmal hervorgehende Eindruck von der katholischen Kirche als einem Hotspot des sexuellen Missbrauchs von Kindern lässt sich mit diesen Zahlen jedenfalls nicht belegen.“

Der Gesamte Beitrag ist leider nur für Abonennten der WELT frei lesbar, aber lohnenswert.

Die MHG-Studie und die Schlussfolgerungen daraus

2014 hatte die Deutsche Bischofskonferenz das interdisziplinäre Forschungsverbundprojekt „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“ in Auftrag gegeben. Das Projekt wurde durchgeführt von einem Forscherkonsortium aus Mannheim, Heidelberg und Gießen (deshalb MHG-Studie).

Die Ergebnisse dieser Studie dienen als die zentrale Begründung für die Installation des Synodalen Weges und die Reformvorschläge vor allem zur Sexualmoral der Kirche, die dort vorgelegt werden. Der erweckte Eindruck, als habe man es mit dem Missbrauch durch Priester mit einem singularen Problem zu tun, das durch die katholische Sexualmoral begünstigt werde, hält sich bis heute als Mythos, ist aber durch die vorgelegten Zahlen nicht zu begründen.

Ohne die abscheulichen Taten von Priestern an Schutzbefohlenen relativieren zu wollen, muss vollständiger Weise ebenfalls festgehalten werden, dass sexueller Missbrauch ein gesamtgesellschaftliches Phänomen darstellt und es leider sowohl im familiären Kontext aber auch in weltlichen Institutionen, Schulen, Kindergärten oder Sportvereinen zu Übergriffen auf Kinder und Jugendliche kommt. In vielen diesen Bereichen, wie etwa im Sport, fehlt gänzlich eine Aufarbeitung oder Präventionsarbeit, hier hat die Katholische Kirche jedenfalls schonungslos mit der Aufarbeitung begonnen und Schutzkonzepte erarbeitet.

Auch Prof. Harald Dreßing fordert eine bundesweite Analyse der Dunkelfeldziffern und schreibt in seinem Beitrag:

„Klar ist, dass sexualisierte Gewalt auch in vielen anderen Bereichen vorkommt. Am häufigsten erleiden Kinder wohl innerhalb der eigenen Familie sexualisierte Gewalt, aber es gibt zum Beispiel auch in Sportvereinen, Schulen, Kindergärten und vielen anderen Institutionen Risikosituationen, in denen Kinder Opfer werden können….Wissenschaftliche Studien, die eine Einschätzung des relativen Risikos für andere potenzielle Missbrauchskontexte erlauben würden, liegen derzeit nicht ausreichend vor. Zu betonen ist dabei, dass sich der Blick bei solchen Untersuchungen nicht nur auf TäterInnen und die jeweilige Institution richten sollte, sondern die Perspektive der Betroffenen und die jeweils spezifischen Risikokonstellationen ins Auge nehmen muss.
Daher ist die Durchführung einer großen nationalen Dunkelfeldstudie dringend angezeigt. Das Wissen aus einer solchen Dunkelfeldstudie ist zwingend nötig, auch um die Effektivität und Effizienz von Präventions- und Schutzkonzepten besser einschätzen zu können. Nur so wird es möglich sein, Kinder vor den verheerenden Folgen sexualisierter Gewalt besser zu schützen.“

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